· 

Endlich wieder Präsenz!?

...ein Restart mit gemischten Gefühlen.

 

„Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können – es war mucksmäuschenstill. Der Vortragende erzählte von einer persönlichen Erfahrung, bei dem es um Leben und Tod ging, bei einem seiner Kunden – und wie ein Servicetechniker seiner Firma geholfen hat. Wow, sehr berührend."

 

 

„Das saß. Finger in die Wunde. Ein mutiger Teilnehmer stellte der Geschäftsführerin die entscheidende Frage, die bereits im Raum stand: Wie viele Mitarbeiter müssen gehen? Alle Blicke richteten sich auf die Geschäftsführerin. Wie würde sie reagieren? Drumherum Reden oder Farbe bekennen?“

 

 

„Ein Raunen ging durch das Publikum. Das war unerwartet. Der designierte Nachfolger wird es nicht werden, sondern eine Externe übernimmt die Bereichsleitung. Mal sehen, was sie zu sagen hat. Das wird nicht einfach für sie.“

 

 

„Tosender Beifall, Standing Ovations, glückliche, lachende Gesichter – was für eine gelungene Rede.“

 

 

„Es macht sich Unruhe bemerkbar. Nicht mehr alle schauen in Richtung der Trainerin, es wird in die Unterlagen, auf die Uhr geschaut, ein paar Worte mit dem Tischnachbarn gewechselt.- Zeit für einen Methodenwechsel oder eine kurze Pause.“

 

 

„Ok, die witzige Anekdote passt – alle lachen, die einen kichern, die Zurückhaltenden grinsen, die Extrovertierten lachen schallend. Gut, das Eis ist gebrochen, wir können loslegen und ans Eingemachte gehen.“

Was davon haben Sie in den letzten 10 Wochen erlebt - in virtuellen Meetings?

 

Ich nicht soviel davon. Ja, die Möglichkeit, 25 oder mehr Live-Webcambilder zu sehen, gibt uns das Gefühl, nicht allein zu sein – das hilft schon mal. Als Sprechende können Sie – wirklich – nicht die Reaktionen von vielen im Blick behalten – der rasche Blick über das Publikum, das freundliche Nicken oder Lächeln eines Zuhörers – das fällt alles aus. Der erste Reflex des Digital Immigrants ist  - wie immer – "das liegt an MIR – ich muss einfach noch mehr Erfahrung sammeln". Weicht aber der Erkenntnis: NEIN- das ist systematisch, systemisch, dem Medium geschuldet. 

Der Digitalisierungs-Tango geht weiter - ein Schritt vor - und zwei zurück

 

In den letzten Wochen wurden wir mit Tipps zum virtuellen Arbeiten und Home-Office überflutet. Darunter auch viele wirklich gute Hinweise,

z.B. zum souveränen Auftritt vor der Kamera oder die launigen Guten Morgen – Calls zweier Präsentationsprofis.

 

 

Einer der Tipps: Zu zweit moderieren – einer unterstützt technisch und hilft ggf. Fragen der Teilnehmer/-innen im Chat zu strukturieren.

 

Da ist er wieder, der Digitalisierungs-Tango - wird teuer - so eine virtuelle Moderation.

 

Oder im Bereich des Online-Coachings: Sie als Coach entscheiden sich entweder für eine empathische Wirkung auf Ihren Kunden, weil Sie ihn/sie "anschauen" (d.h. direkt in die Kamera schauen) ODER für eine professionelle Arbeitsweise, indem Sie versuchen, die Reaktionen Ihres Kunden zu erhaschen, indem Sie auf den Bildschirm schauen. Die Reaktion der Digitalisierungs-Enthusiasten: "Das sei doch alles kein Problem, man gewöhne sich dran, es gäbe da schon Studien, bald wird das technisch gelöst sein... "

Wir geben uns bis dahin also wieder mit der "zweitbesten" Lösung zufrieden - also zwei Schritte zurück, oder?

 

Oder der Container-Begriff "WEBINAR" - diese "Webträge" also vertonte Vorträge, gelegentlich mit Fragen-Chat, haben wir viele Jahre erduldet, uns über die zeitunabhängige Aufzeichnung gefreut - nicht mehr, und nicht weniger.

 

Heutzutage haben wir stattdessen wirklich tolle Echtzeit-kooperative Tools zur Verfügung. Schön. So können wir - fast so - interaktive Trainings, Meetings und Workshops gestalten, wie wir es aus der analogen Welt gewöhnt sind. Eben nur fast. Aber nicht dasselbe. Virtuelle Meetings haben viele Vorteile gegenüber Präsenz, aber auch die klar ersichtlichen Nachteile. Lassen Sie uns da nicht drumherum reden, sondern professionell damit umgehen. 

Wer sitzt da als Frosch im warmen Wasser?!

Apropos professionell. Wir freunden uns – die einen schneller, die anderen langsamer - mit den Unterschieden zwischen Präsenz und virtuellem Raum an. Kritische Menschen sehen sich dem Enthusiasmus – Druck ausgesetzt – sonst sind sie raus und sowas von „old school“.

 

 

Sehr beunruhigend nachzuverfolgen in den Diskussionen im #Moocamp20 – meiner Lieblings-Filterblase „L&D – Learning & Development“ – gibt es etwa Grabenkämpfe zwischen den digitalen und Präsenz-L&D-lern?

 

Besser nicht, denn wir sitzen als Frösche in dem gleichen unangenehm wärmer werdenden Wasser – wenn wir uns nicht zusammenraufen, werden wir gemeinsam in die Bedeutungslosigkeit abdriften – denn die Business-Herausforderungen sind ganz Andere. Die Diskussion regte Karlheinz Pape in einer Session am 15. Mai an "Corona und die Auswirkung auf L&D", die er in diesem Blogbeitrag verarbeitete. 

Meine Lösungsansätze: Ambidextrie, Leap Frogging und Selbst Denken im Lernraum Gehirn

Ambidextrie

 

Ambidextrie  - Beidhändigkeit – bezeichnet ursprünglich die Fähigkeit mit rechts und links schreiben zu können. In die Digi-Innovationswelt übertragen, ist damit die Fähigkeit gemeint, zwei sehr verschiedene Systeme/ Strukturen/ Strukturelemente (z.B. Effizienz UND Flexibilität) möglichst gleichberechtigt nutzen zu können. Für die Bewältigung von Komplexität extrem wichtig,  Bereiche sicherer Entscheidungen unterscheiden von Bereichen der Unsicherheit, Routine-Prozesse von notwendiger kreativer Neugestaltung. Ja genau, agil von hierarchisch in der gleichen Organisation.

 

In Bezug auf das betriebliche Lernen heißt Ambidextrie: sowohl in der Präsenz/ Analog/Offline-Welt als auch im digitalen Kontext effektives, interessantes und abwechslungsreiches Lernen zu ermöglichen.

 

 

Unabdingbare Anforderung an L&D-Professionals und Verantwortliche  – beide Strukturen/ Systeme zu durchdringen, Vor- und Nachteile klar zu benennen mit möglichst geringer emotionaler Be/Auf/Abwertung, und die Einsatzmöglichkeiten kontextabhängig gestalten zu können im Dienste des größtmöglichen Kundennutzens.

Leap Frogging

 

Leap Frogging -  wörtlich - Bockspringen - meint das bewusste Auslassen oder Überspringen einer Entwicklungsstufe oder eines Prozesses. Bzw. das Vertagen einer Kaufentscheidung, bis die nächste Produktgeneration  zur Verfügung steht.

 

 

Als Digital Immigrant ist das die Gnade der späten Digitalisierung – weil Sie so zumindest zeitweise den Digitalisierungs-Tango vermeiden können. Heute können wir mit Zoom und Teams eine stabile und gute Videokonferenztechnik für wenig Geld erhalten. Werkzeuge wie Miro, Mural, Conceptboard, Slido, Menti usw. ermöglichen virtuelle Zusammenarbeit in Echtzeit.  

 

Digitale Barcamps mit Aufzeichnung sind der Hammer, und die Dokumentation am Computer fällt leicht, 5-10 Minuten eingeplant und die Doku steht. Was war das immer ein Hin und Her in den persönlichen Barcamps. Es hatte einfach keiner Lust, die Flipcharts abzufotografieren, einzuscannen und hochzuladen.

 

Ja, es fängt an, Spaß zu machen. 

 

Wer jetzt einsteigt, sollte wissen, er braucht sich keine langweiligen Videos, oder e-learning- Kurse mehr anschauen. Deshalb sollten auch die e-learning Platzhirsche der letzten 20 Jahre aufpassen – 2000 langweilige Video(kurse) bleiben eben langweilig. Herzlich willkommen in der „Existenzangst“ der Präsenztrainer.

Und Kunden sollten sich mit nichts weniger als dem aktuellen Stand der Technik zufrieden geben. Bleiben Sie hart und kritisch. 

 

Auch automatisierte Webinare als der angebliche Hype im Online-Marketing dürfen wir getrost auslassen – ist ja eigentlich einfach ein Video. Warum sollte ich  ein bereits aufgezeichnetes Webinar genau zu einem bestimmten Zeitpunkt anschauen? Das verärgert Kunden lange und nachhaltig.

 

 Wie sieht es mit Lernen in 3D-Lernräumen aus? Beispiel Tricat… ist leider nicht 3D. Das wird erst mit Virtual Reality / Augmented Reality wirklich 3D. Also Tricat auslassen und abwarten oder sofort bei VR/AR einsteigen. 

  

Aber Vorsicht: Nicht ZU lange Abwarten. Dann wird die Lernkurve extrem steil. Wie so viele in Bezug auf Live-Online-Trainings und virtuelle Zusammenarbeit gerade schmerzhaft erfahren durften. Kann man so machen. Nennt man selbstgemachten Stress. Lernen auf Vorrat ist sowas von out. Lernkurven sollten aber weiterhin eingeplant werden. Entspannt ungemein.

 

Die m.E. beste Strategie für Menschen und Unternehmen, die nicht sofort alles Neue und Innovative wollen, brauchen, sich leisten können: Das "Meer der Möglichkeiten" kontinuierlich gut beobachten und gezielt zugreifen, sobald es für das eigene Geschäft oder die berufliche Entwicklung relevant wird.

Selbst Denken

 

Mein Favorit – Selbst denken. Die nächste wirklich große Veränderung ist Künstliche Intelligenz und hierfür benötigen wir eine gute Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Gehirns und unseres individuellen Gehirns im Besonderen. Die Stichworte sind Emotionsmanagement, Selbstregulation und Selbstkontrolle, unbewusste kognitive Verzerrungen sowie die eigenen emotionalen und kognitiven Präferenzen und Triggerpunkte. Das alles sollten Sie jetzt und kontinuierlich erkunden, in Frage stellen und im Dialog mit Anderen schärfen. Die Thematik der Fake News, Filterblasen und Echochambers nimmt erst richtig Fahrt auf und ganz bald werden Sie sich fragen müssen – Folge ich der KI-basierten Entscheidung oder meiner Einsicht und wie sicher bin ich mir dabei? Also – schulen Sie Ihren Lernraum Gehirn!

Und was hat das alles mit Präsenztrainings zu tun?

 

Ich habe in den letzten 10 Wochen die unumkehrbare Entscheidung getroffen, von jetzt an bis zur kompletten Umsetzung – mein Business 100% zu digitalisieren und auf online umzustellen.

 

 

Ich glaube zwar, dass es einen sehr heftigen Rückschwung in Richtung Präsenz geben wird, weil wir als soziale Wesen nicht – ohne Not - auf dieses Element des psychischen Wohlbefindens verzichten werden – aber aus betriebswirtschaftlichen (Kosten), gesellschaftlichen (Klimawandel)  und didaktischen (verlängerte Lernzeit, selbstgesteuertes Lernen)  Gründen hat das intensive Präsenztraining keine echte Überlebenschance mehr.

  

Ich bin davon so sehr überzeugt, dass eine Kundin zu mir sagte, als ich mit ihr diskutierte, warum sie das geplante Präsenztraining nicht auf online umstellen wolle und stattdessen noch abwarten wollte:

„Frau Reimers, sagen Sie uns Bescheid, wenn Sie nicht mehr als Präsenztrainerin/-moderatorin zur Verfügung stehen.“

 

 Also hier mal zur Klarstellung: Ich LIEBE Präsenzveranstaltungen! 

 

– als ich vor 30 Jahren meine Karriere startete, dachte ich, dass ich damit bis zu meiner noch in weiter Ferne liegenden Rente weitermachen kann. Das glaube ich heute nicht mehr.

 

Mein geplanter Schlusssatz für diesen Blogbeitrag war "Bye, bye Präsenztraining - es war schön mit Dir - ich werde Dich niemals vergessen und immer in Ehren halten."

  

Da flatterte gestern dieses email von einem Kunden in mein Postfach.

Ich hatte ein Tränchen im Auge und war seit langem nicht mehr so glücklich über eine geschäftliche Nachricht: 

 

"Sehr geehrte Frau Reimers, wir freuen uns Ihnen mitteilen

zu können, dass die beiden o.g. Seminare wieder hier

vor Ort stattfinden können (…)"

 

Ich stehe für wirksame, interessante, abwechslungsreiche Veranstaltungen zur Verfügung – SOWOHL ALS AUCH.

  

Wir kommen da durch. Gemeinsam. Für eine menschliche, digitale Zukunft mit Respekt für unsere Natur.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0